Ich sitze auf der Fähre von Borkum nach Emshaven. Draußen läuft der Regen an den Fenstern herunter, es riecht nach Reise und Schiffsbenzin. Mir gegenüber hat sich ein älteres Ehepaar niedergelassen. Er kommt mit einem Tablett aus dem Restaurant – Kaffee und Brötchen. Beide sind braungebrannt und sehen unglaublich erholt aus. Sie trägt ein flamingo-farbenes Strickoberteil, einen roten Schal und darunter eine weiße Perlenkette mit großem Perlmutt-Anhänger in Form eines Seepferdchens, dazu eine randlose, sechseckige Brille. Die mikroskopisch kleinen Kaffesahne-Portiönchen werden in die Tassen gerührt, das Päckchen Zucker teilt man sich. Ausgehungert stürzen sich die beiden Herrschaften auf ihre belegten Brötchen. Er hat die Ellenbogen zu beiden Seiten des Tabletts auf den Tisch gestemmt, was das Brötchen dauerhaft auf praktischer Zubeiß-Höhe hält und scheint nur Augen für seinen Leckerbissen zu haben. Sie hingegen berührt den Tisch nur leicht mit den Unterarmen, die Hände sind zu einer Art kleiner Faust mit empor gestrecktem Daumen geballt. Nach jeden Bissen legt die ihr Brötchen ab und reibt beständig Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Ihre Nägel sind rund gefeilt und mit einer Schicht durchsichtigem Nagellack überzogen. Als ich eine Seite später wieder von meinem Buch aufblicke, sind nicht einmal mehr Krümel zu entdecken. Er trägt ein taubenblaues Oberhemd, ist rasiert wie ein Kinderpopo und hat offensichtlich den selben Optiker wie seine Gattin. Während der kompletten Zeit wechseln die beiden kein einziges Wort, er starrt verloren vor sich hin, schaut vorbeilaufenden Passagieren nach. Sie kramt in ihrem Rucksack und irgendetwas sagt mir, dass nun „Mach mal Pause“ erscheinen wird, das Magazin für Frauen, die ihren Männern nichts mehr zu sagen haben. Das Sudoku ist unberührt, es geht zum Kreuzworträtsel. Die Zeitschrift liegt flach auf dem Tisch zwischen uns. Während sie liest, hebt sie die Seite leicht an, hält den Kopf kerzengerade, sodass sie beinahe die Augen schließen muss um das Rätsel zu sehen. Dabei zieht sie die Augenbrauen bis zum Anschlag hoch, was drei tiefe, eckige Falten auf ihrer Stirn hervorruft. Die Finger ihrer linken Hand sind in beständiger Bewegung, tippeln auf dem Papier hin und her und senken sich, spreizen die Seiten und streichen über die Ecken.