Reisezeit - mal wieder bin ich unterwegs. Diesmal vom niederländischen Groningen in die westfälische Landeshauptstadt Münster. Nach stundenlangem Warten und Herumdrücken auf den verschiedensten Bahnsteigen in eisiger Kälte dieses Märznachmittages kann ich mich endlich in einem Abteil der Bahn niederlassen, das zumindest zweistellige Temperaturen aufzuweisen scheint. Es ist still im Abteil, ein jungen Mann, mir gegenüber hat die Augen geschlossen und döst vor sich hin. Drei Reihen weiter unterhalten sich zwei Reisende kaum hörbar. Nur noch ein weiterer Passagier teilt sich mit uns diesen Teil des Zuges. Ein älterer Herr mit grauem Haar und Brille. Er reist mit drei großen Plastiktüten und macht ansonsten keinen sonderlich vertrauenswürdigen Eindruck. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und wieder einmal spielen mir meine Sinne einen Streich, als ich das Gefühl bekomme, der Bahnhof würde sich bewegen. Der ältere Herr hantiert geräuschvoll in einer seiner vielen Plastiktüten und kramt alles mögliche hervor um es auf dem Nebensitz auszubreiten. Sprühdosen, leere Getränkeflaschen, zerknüllte und zusammengefaltete Papiere und jede Menge anderes wunderliches Zeug stapelt sich da. Das Gewurstel und Gekrame geht eine ganze Weile weiter, ohne dass sich irgendein Erfolg der vermeintlichen Suche einzustellen scheint. Dann wird es ruhig und erst nachdem es im Abteil beginnt, seltsam zu riechen, wenden ich mich wieder um. Vor ihm auf den beiden blau karierten Sitzen liegen nun zwei quadratische Bretter mit allerlei unterschiedlichen kleinen Objekten, die darauf befestigt sind. In Händen hält er nun eine kleine Tube, Kunststoffkleber, dem Geruch nach zu urteilen. Damit hantiert er nun an den Brettern herum und beginnt, goldene Erdnüsse aufzukleben. Der Zug hält und der junge Mann mir gegenüber schnappt seinen Rucksack und steigt aus. „Meppen“ steht auf dem Schild und versprüht sofort westfälisches Flair, beim Blick aus dem Fenster. Ein brünetter Herr steht auf einmal im Gang und lenkt meine Aufmerksamkeit zurück zu dem Mann mit den goldenen Erdnüssen. Er trägt einen marineblauen Pullover mit Schulterklappen und gelbem Abzeichen auf der Brust. Etwas irritiert wechselt er einige Worte mit dem Erdnussmann um sich anschließend wieder abzuwenden. Es wird wieder ruhig, ein Herr mit lilafarbenen Stirnband sitzt nun vor mir und blättert in einer Zeitung. Dann stürzt sich auf einmal eine kleine dicke Schaffnerin auf den Mann mit den Plastiktüten. Irgendwie scheint mir, ich habe den Beginn der Konversation zwischen den beiden verpasst, die kleine Frau ist sichtlich ungehalten und will sofort einen Personalausweis sehen. „Hab ich nicht, den hab ich verloren.“, kommt die nicht ganz unerwartete Antwort. Mittlerweile ist auch der Herr mit den Schulterklappen wieder da. Die Schaffnerin echauffiert sich, dass der Mann ihr keinen gültigen Identitätsnachweis liefern kann. „Ja, der ist mir gestohlen worden.“ Ein kleiner triumphierender Aufschrei ist zu vernehmen, die kleine dicke Schaffnerin macht einen Satz nach vorne und wiegt sich in den Hüften. Das Fahrkartenknipsgerät baumet gegen die benachbarte Sitzreihe. „Jetzt haben wir zwei verschiedene Aussagen von Ihnen, was soll ich denn jetzt noch glauben? Sie haben ja nicht einmal einen gültigen Fahrschein!“, gellt sie außer Kontrolle. Sie ist sichtlich in ihrem Element und ihre Augen sprühen Funken. Was man denn in einem solchen Fall mache, fragt der Mann mit den Schulterklappen in gedämpftem Ton und sie antwortet etwas von wegen Strafanzeige. Es befinden sich Beamte des Bundesgrenzschutz in Zug, wie sich herausstellt, die dann sogleich auch an den Tatort beordert werden. Wir halten wieder und das lilafarbene Stirnband verlässt den Zug nicht ohne einen neugierigen Blick auf den kleinen Auflauf, der sich um die goldenen Erdnüsse gebildet hat. Kurze Zeit später tauchen zwei uniformierte Grenzpolizisten auf und wollen nochmal alles ganz genau wissen. Nachdem der ältere Herr nochmals all seine Papiere durchwühlt hat, jedoch weiterhin keinen Ausweis zum Vorschein bringen kann, verschwinden beide wieder um die angegebenen Daten zu überprüfen.Bis Bahnhof „Greven“ bleibt es ruhig, erst dann erscheint einer der beiden Polizisten wieder und informiert den Herren, was ihn nun erwartet. Die Vergehensliste ist lang und scheint mir eher der eines Schwerverbrechers zu gleichen. Nachdem er die Litanei herunter gebetet hat, lässt sich der Beamte mir gegenüber nieder, um die Erdnüsse im Blick zu halten und schlägt eine Zeitung auf. Er ist groß, hat ein Kreuz wie ein Schrank und sein Gesicht hat einen eigenartigen Glanz, wie frisch gewienert. Der ältere Herr sitzt nun wenig beeindruckt von dem Rummel, der um seine Person gemacht wird in seiner Ecke und beginnt wieder damit, in seinem Papierhaufen zu kramen. Er zückt eine weitere Brille und setzt diese auf die andere Brille, die er bereits auf der Nase hat. Vertieft widmet er sich Briefen und Reklameanzeigen jeder Art, die er reihenweise aus einer großen orangen Plastiktüte zieht. Nach einem mir unbekannten System, sortiert er alles in verschiedene Stapel und füllt damit vier Sitzplätze. Immer wieder wirft der Beamte vor mir einen prüfenden Blick auf seinen Schützling, wenn dieser ausfallende Bewegungen macht oder mit seinen Sprühdosen hantiert. Dann kommt die Durchsage, dass wir in wenigen Minuten „Endstation Münster Hauptbahnhof“ erreichen werden und nicht nur ich packe meine Sachen zusammen.Das Abteil erwacht zum Leben und von überall her ertönen nun Stimmen und Geraschel. Ich bahne mir einen Weg durch den Gang und überlasse den Mann mit den goldenen Erdnüssen dem Polizisten mit dem gewienerten Gesicht.